Obwohl man in Indien auf eine Vielzahl an Religionen trifft, ist es doch der Hinduismus, der Indien besonders prägt. Dabei ist die Bezeichnung Hinduismus ein sehr verallgemeinernder Sammelbegriff, der von moslemischen Eroberern geprägt wurde, die Indien „Al Hind“ und die Bewohner „Hindus“ nannten: das war besonders aus steuerlichen Gründen wichtig, denn die moslemischen Mogulherrscher führten zwei Steuerklassen ein – eine für Moslems und eine für Hindus. Unter den englischen Kolonialherren wurde dann zwischen den Bewohnern, den Indern, und den Anhängern der ursprünglichen Religionen, den Hindus unterschieden.
In Wahrheit sind die religiösen Praktiken zwar auf gemeinsamen Wurzeln verhaftet, unterscheiden sich aber stark, was man auch mit den mosaischen Religionen Judentum, Christentum und Moslem vergleichen kann. So gibt es in Indien eine Vielzahl an religiösen Pilgerorten und tausende Götter – gerade im Süden Indiens schafft es oft auch Christus gleichberechtigt mit anderen Göttern auf die Hausaltäre der dortigen Hindus.
Auf einer Reise durch Indien trifft man immer wieder auf Pilger – so etwa im Chamendushwari-Tempel in Mysore, der Chamendi, einer weiblichen Gottheit geweiht ist, die im Shivaismus eine wichtige Rolle spielt.
Besonders viele Pilger fanden wir in Madurai, einer Millionenstadt in Tamil Nadu, vor. Die wichtigste Sehenswürdigkeit der Stadt ist der prächtige Minakshi-Tempel – der einer der wichtigsten Anlaufpunkte im Süden Indiens für Pilger darstellt. Elf Mal im Jahr werden hier wichtige Feste gefeiert, die von tausenden Pilgern besucht werden. Minakshi ist der lokale Name für Parvati, die Frau Shivas. Viele Pilger sparen jahrelang auf die Pilgerfahrt, die dann meist auch noch Kanyakumari an der Südspitze Indiens besuchen. Viele dieser Pilger treffen in Madurai erstmals auf Menschen aus Europa und so wird man hier besonders oft nach gemeinsamen Fotos gefragt, oder auch gebeten, ein Foto von den Pilgerfamilien zu machen.
Ein Besuch im Tempel lohnt sich und es lohnt sich auch einen Guide zu nehmen. Wir hatten dabei besonders viel Glück, denn unser Tempel-Guide konnte mit einem vielversprechenden Lebenslauf aufwarten: er war ein Christ, der sich dem Kommunismus zugewandt hatte und sich seinen Lebensunterhalt mit Führungen durch den Tempel verdiente.
Das man im Tempel laufend Geschäfte treibt, trieb ihn dazu, aus der Bibel die Vertreibung der Geldleiher zu zitieren und in drastischen Worten erklärte er, wie man aus Kuhdung die Farbe herstellt, mit denen sich die Pilger vor dem betreten der heiligsten Orte (für Nicht-Hindus tabu) das „Bindi“ auf die Stirn malten. Auch dafür das viele Bauern ihr Erspartes für eine Reise in den Tempel verbrauchten, fand er kritische Worte. Gleichzeitig erklärte er, dass er das schwarze Schaf der Familie sei, vor allem, weil er sich weigerte, Kinder zu kriegen, da das Elend in Indien groß genug sei. Trotzdem brachte er uns den Tempel aber ausgezeichnet näher und überzeugte uns letztendlich auch davon, dass es kein Fehler sein könne, bei Ganesha (bei uns oft als „Elefantengott“ bekannt) um Unterstützung zu bitten – immerhin ist dieser für Glück und gutes Gelingen neuer Unternehmungen zuständig. Ganesha ist, wahrscheinlich aus diesem Grund, der beliebteste Gott vieler Inder und ihm widmen viele gläubige Hindus täglich das erste Gebet.
Letztendlich hatte er auch viel Verständnis für die Wünsche der Pilger und brachte uns deren Glaubenswelt sehr viel näher – es war die beste Führung, die wir in drei Wochen in Indien erlebt hatten und öffnete uns in vielerlei Hinsicht die Augen – besonders auch in wirtschaftlicher Hinsicht, denn die Schilderungen des überzeugten Kommunisten über die extremen Einkommensunterschiede klangen, im Anbetracht der krassen Arm-Reich Gegensätze doch sehr plausibel. Kein Wunder, dass er für die Brahmanen, die Mitglieder der obersten Kaste, wenig gute Worte fand.
Letztendlich war die ungewöhnliche Lebensgeschichte unseres Guides wiederum typisch Indisch – hier gibt es einfach nichts, was es nicht gibt.
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